Bundesverfassungsgericht: Grenzen der Gegendemonstration – Beschluss vom 1. Oktober 2025 (1 BvR 2428/20)

Am 13. November 2025 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht eine Pressemitteilung zu einem Beschluss vom 1. Oktober 2025. Gegenstand war die Verfassungsbeschwerde eines Gegendemonstranten, der wegen einer Sitzblockade strafrechtlich verurteilt worden war. Der Beschluss gibt wichtige Hinweise für die Abgrenzung zwischen erlaubter Gegendemonstration und strafbarer „grober Störung“ und stellt klar, dass die Versammlungsfreiheit nicht dazu missbraucht werden darf, andere Versammlungen zu verhindern.

Sachverhalt und Verfahrensgang

  • Demonstration in Freiburg (10. April 2015): Eine religiöse Vereinigung veranstaltete eine angemeldete Kundgebung zum Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“ mit anschließendem Aufzug durch die Freiburger Innenstadt. Etwa 100 Teilnehmende wollten nach der Auftaktkundgebung zum Martinstor ziehen.

  • Sitzblockade der Gegendemonstranten: Rund 70 Gegendemonstrantinnen und ‑demonstranten setzten sich hinter dem Martinstor auf die Fahrbahn, hielten Plakate („Gegen reaktionäre Knetköpfe“, „Mein Bauch gehört mir“) hoch und übertönten die Gesänge der Demonstration mit Sprechchören und Trillerpfeifen. Ihr Ziel war es, den Aufzug zum Stillstand zu bringen und die Durchführung der Versammlung zu vereiteln.

  • Polizeiliche Auflösung und Strafverfahren: Trotz mehrfacher Aufforderung blieb ein Teil der Gegendemonstranten sitzen, sodass die Polizei die Blockade auflöste und die Beteiligten wegtrug. Der Beschwerdeführer wurde vom Amtsgericht wegen Störung von Versammlungen und Aufzügen (§ 21 VersG) zu 10 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt. Seine Revision wurde vom Oberlandesgericht als unbegründet verworfen; eine Anhörungsrüge blieb erfolglos.

  • Verfassungsbeschwerde: Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG). Er verlangte, § 21 VersG verfassungskonform so auszulegen, dass versammlungsgeschütztes Verhalten vom Straftatbestand ausgenommen bleibt.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Schutzbereich der Versammlungsfreiheit und „Kommunikatives Element“

Das Gericht bestätigte, dass die Sitzblockade als Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG einzustufen ist, weil die Gegendemonstranten mit Plakaten und Sprechchören konkrete inhaltliche Äußerungen machten. Eine Zusammenkunft, die nicht ausschließlich auf die Störung einer anderen Versammlung gerichtet ist, sondern über die Blockade hinaus ein eigenständiges kommunikatives Element besitzt, fällt in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Der Strafbarkeit steht nicht entgegen, dass die Polizei die Gegendemonstration erst nach einiger Zeit aufgelöst hatte. Die Entscheidung schließt eine Strafbarkeit bereits vor einer formellen Auflösung jedenfalls nicht aus.

Keine Verletzung des Zitiergebots

Der Beschwerdeführer argumentierte, die Strafnorm des § 21 VersG greife in die Versammlungsfreiheit ein, ohne Art. 8 GG als einzuschränkendes Grundrecht zu zitieren. Das Gericht verneinte einen Verstoß: Das Zitiergebot findet nur Anwendung, wenn der Gesetzgeber den Grundrechtseingriff bei Erlass der Norm vorhersehen konnte. Bei Einführung des § 21 VersG (1953) war eine solche Einschränkung der Versammlungsfreiheit weder tatsächlich noch rechtlich hinreichend vorhersehbar.

Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit des § 21 VersG

Die Verfassungsbeschwerde richtete sich auch gegen die Bestimmtheit des Tatbestandsmerkmals „grobe Störung“. Der Senat hielt § 21 VersG für formell und materiell verfassungsgemäß. Er begründete dies u.a. wie folgt:

  • Der Begriff „grobe Störung“ ist durch langjährige Rechtsprechung konturiert und auslegungsfähig.

  • Der Zweck der Norm besteht darin, einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Grundrechtspositionen zu schaffen: Teilnehmende einer Gegendemonstration dürfen ihre eigene Versammlung nicht in einer Weise durchführen, die die Durchführung der Ausgangsversammlung verhindert.

  • Die Strafbarkeit dient der Sicherung eines funktionierenden Versammlungswesens und schützt die Grundrechtsausübung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausgangsversammlung.

Bedeutung für die Praxis – Was Sie wissen sollten

Die Entscheidung unterstreicht die hohe Bedeutung der Versammlungsfreiheit, markiert aber zugleich Grenzen für Gegendemonstrationen. Für Mandanten, die Demonstrationen organisieren oder an Gegendemonstrationen teilnehmen, lassen sich folgende Punkte ableiten:

  • Eigenständiger Beitrag erforderlich: Wer eine Gegendemonstration plant, sollte sicherstellen, dass sie ein erkennbares kommunikatives Anliegen hat (zum Beispiel Plakate, Sprechchöre oder Redebeiträge). Eine reine Blockade ohne eigene Botschaft genießt keinen Schutz nach Art. 8 Abs. 1 GG.

  • Respekt vor anderen Versammlungen: Der Senat betont, dass die Ausübung der eigenen Versammlungsfreiheit nicht zum Mittel werden darf, die Versammlungsfreiheit anderer zu verhindern. Blockadeaktionen, die das Ziel haben, eine andere Versammlung „abzuwürgen“, können strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

  • Polizeiliche Anordnungen beachten: Die Freiburger Blockade wurde laut der gerichtlichen Feststellungen durch die Polizei mehrmals aufgefordert, den Weg freizugeben. Wer sich in solchen Situationen den mehrfachen Anordnungen widersetzt, riskiert die Auflösung der Versammlung und strafrechtliche Folgen.

  • Prüfung der Strafnorm § 21 VersG: Die Norm bestraft grobe Störungen, Verhinderungs- oder Sprengungsabsichten nicht verbotener Versammlungen. Aufgrund der hohen verfassungsrechtlichen Legitimation wird § 21 VersG voraussichtlich weiterhin konsequent angewandt. Eine „verfassungskonforme Reduktion“ auf nicht versammlungsgeschütztes Verhalten hat das Bundesverfassungsgericht abgelehnt.

  • Beratung im Vorfeld: Organisatoren und Teilnehmer sollten sich vor geplanten Protesten beraten lassen. Eine anwaltliche Prüfung der Anmeldepflicht, der Wahl des Ortes und möglicher Auflagen hilft, Konflikte und Risiken zu vermeiden.

Schlussfolgerung

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Oktober 2025 stärkt die Versammlungsfreiheit und präzisiert zugleich ihre Grenzen. Gegendemonstrationen genießen Schutz, wenn sie über eine reine Störaktion hinaus ein eigenes Kommunikationsanliegen verfolgen. Blockaden, die allein der Verhinderung einer anderen Demonstration dienen, fallen nicht unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG und können nach § 21 VersG strafbar sein. Die Entscheidung erinnert daran, dass die Versammlungsfreiheit zwar ein Grundpfeiler der Demokratie ist, aber nicht dazu benutzt werden darf, andere von der Ausübung desselben Rechts abzuhalten.